Sinkende Sterne: Roman
Thomas Hettches Ruf als deutschsprachiger Autor ist überragend. Seine Karriere als Schriftsteller begann Ende der 80er Jahre, seitdem sind seine Werke mit den unterschiedlichsten Literaturpreisen ausgezeichnet worden. Seine Romane sind in hübscher Regelmäßigkeit beim Deutschen Buchpreis vertreten, wenn auch nicht als Gewinner, so doch bereits dreimal als Short List Vertreter, zuletzt 2020 mit seinem Roman „Herzfaden“. In diesem Jahr ist sein aktueller Roman erschienen: „Sinkende Sterne“, auf den viele in Anbetracht des literarischen Rufes, den Herr Hettche hat, sehnsüchtig gewartet haben.
Thomas Hettche erzählt in „Sinkende Sterne“, wie er nach dem Tod seiner Eltern in die Schweiz reist, um das Ferienhaus, in dem seine Eltern bis zuletzt gewohnt haben und in dem er viele Jahre seiner Kindheit verbracht hat, zu verkaufen. Das ist zumindest der Plan. Mit Eintreffen an diesem, für ihn besonderen Ort, der mit vielen Erinnerungen verbunden ist, zögert er jedoch mit der Umsetzung dieses Plans. Während der Tage, die er dort verbringt, erkennt er, dass dieses Haus eine besondere Bedeutung für ihn hat, so dass er seine Entscheidung, das Haus zu verkaufen, überdenken wird.
Eine große Rolle spielt in diesem Roman der Schauplatz. Das Ferienhaus von Hettches Eltern stand im Wallis, in den Schweizer Alpen. Das muss man Herrn Hettche lassen: Seine Schilderungen der Natur sind atemberaubend. Seine Beschreibungen haben wenig mit einem Touristenidyll gemeinsam, sondern stellen die Naturgewalt in den Vordergrund, die bedrohlich sein kann, aber gleichzeitig überwältigend. Hettches Bergwelt übt einen unwiderstehlichen Zauber aus und somit einen perfekten Hintergrund zu seiner Nähe zum Magischen Realismus. Denn wie in manch einem seiner Romane, finden sich in „Sinkende Sterne“ Elemente dieses Genres. Nur, dass es der Autor diesmal übertreibt. Dem einen mag es gefallen, mir war es stellenweise zu plump und zu gewollt. Denn Hettche driftet in diesem Roman immer wieder ins übertrieben Groteske ab, als ob er den Leser bewusst schockieren will.
Der Protagonist dieses Romans (Hettche?) entpuppt sich als Relikt der Vergangenheit, das sich mit der Gegenwart arrangiert hat, aber sich nicht wirklich gut dort aufgehoben fühlt. Die modernen technischen Errungenschaften unserer heutigen Zeit bereiten ihm Schwierigkeiten, Veränderungen in der Gesellschaft machen ihm zu schaffen. Vielleicht ist hier der Bezug zu dem Titel des Romans zu sehen: „Sinkende Sterne“ – ein alternder Schriftsteller, der seinen Zenit überschritten hat und sich nicht mehr in der modernen Gesellschaft zurechtfindet. Doch das ist Spekulation, denn leider ist Hettche mit seinem Text und seiner Intention nicht zu mir durchgedrungen.
Der Protagonist ist also ein Mensch, der sich an seiner Vergangenheit festklammert. Immer wieder verliert er sich in essayistischen Gedanken, schwadroniert zu ausufernd über die Helden von Damals, wobei es ihm insbesondere die schriftstellerischen Helden angetan haben.
Aus dieser Vergangenheitsblase heraus, unternimmt der Protagonist immer wieder Vorstöße in die Gegenwart, indem er wie aus einem Geistesblitz heraus, mal eben ein aktuelles gesellschaftsrelevantes Thema ankratzt, „Diversität“ wäre ein Beispiel. Vielleicht ist dies ein Versuch des Autors, dem Zeitgeist gerecht zu werden? Leider wirken diese Versuche seltsam deplatziert.
Hettches Roman „Sinkende Sterne“ ist ein autofiktionaler Roman, in dem der Autor scheinbar autobiografische Elemente einbaut, die sich aber im Verlauf der Handlung in Frage stellen lassen. Die Grenze zwischen Realität und Fiktion verschwimmen mit der Zeit, was aber für diesen Roman nicht relevant ist. Denn eine Geschichte wird nicht besser oder schlechter, bloß weil sie vom Autor selbst erlebt wurde. Wichtig sollte sein, was ein Autor erzählt und wie er es erzählt, unabhängig vom Realitätsgehalt. Und bei dem „Was ein Autor erzählt“ hatte ich mit diesem Roman meine Schwierigkeiten. Denn in Summe ist mir der Roman zu fragmentarisch. Leider wirkt nichts ausgegoren und ergibt kein komplettes Ganzes, so dass der Autor mir mit seinem Roman nicht begreiflich machen konnte, worum es eigentlich ging.
Trotz aller Kritik gab es dennoch für mich zwei Lichtblicke in diesem Roman. Zum einen gibt der Autor einen Einblick in sein Verständnis von Literatur und der Kunst des Schreibens. Seine Denkansätze sind hochinteressant. Zum anderen ist Hettches Fähigkeit, Stimmungen zu transportieren, bemerkenswert. Wie zu Beginn bereits erwähnt, sind seine Naturbeschreibungen kraft seines Erzählstils ein Genuss. Doch in Summe reicht dies nicht aus, um diesen Roman weiterzuempfehlen. Schade!
Manchmal sollte man einfach seiner (ersten) Intuition folgen und eine Pause machen. So war ich fest gewillt, mich nicht zur Leserunde von Thomas Hettche´s neuen Roman „Sinkende Sterne“ (erschienen bei Kiepenheuer & Witsch) anzumelden. Nun, diese Rezension zeugt von meiner Inkonsequenz *g*.
Herr Hettche macht es seinen Leser:innen aber auch von vornherein nicht gerade leicht „Nein“ zu sagen – weiß er doch sowohl sprachlich als auch bildlich sein „Publikum“ von Beginn an zu erreichen und abtauchen zu lassen in die ganz eigene Welt des Ich-Erzählers Thomas Hettche. Dabei konnte ich nicht unterscheiden, ob der Roman-Thomas von dem Real-Thomas „abweicht“ oder ob Hettche hier wirklich „seine“ schwierige Vater-/Sohn-Geschichte aufarbeitet und sie mit dystopischen und phantastischen Elementen zu einem in weiten Teilen berührenden Text verbindet. Letztlich spielt es auch keine Rolle.
Der Ich-Erzähler Thomas fährt in das Dorf seiner Jugend, um nach dem Tod des Vaters das Haus zu verkaufen. Malerisch gelegen im schweizerischen Kanton Wallis oberhalb des Rhonetals, dass durch einen katastrophalen Bergsturz nun unter der Wasseroberfläche eines Sees liegt. Doch wie es oft im Leben spielt: meistens kommt es anders als man denkt. Denn Thomas will bleiben – warum auch nicht, hat er doch gerade seinen Job als Dozent an der Uni Berlin verloren. Dass er bleiben will, sorgt nicht überall für Wohlwollen…
Soweit die Ausgangslage. Hier entspinnt sich nun mit fortschreitender Lektüre eine Geschichte, bei der sich „Wirklichkeit“ und Phantasie die Klinke fließend die Hand geben. So kommt es zu außergewöhnlichen Szenen, die mich als Leser ziemlich ratlos zurück gelassen haben; manche Kommentare und Interpretationen meiner Leserundenpartner:innen konnten zwar den ein oder anderen „Knoten“ auflösen und doch hatte ich selten so viele Fragezeichen nach dem Ende eines Buches wie hier. So wird mir wohl nichts Anderes übrigbleiben als dem Roman, hinter dem sich (wahrscheinlich) so viel verbirgt, dass man ganze Aufsätze darüber schreiben könnte, irgendwann eine zweite Chance zu geben, um dann hoffentlich (nicht nur) die von Thomas Hettche teils fantastischen Sprachbilder wertschätzen zu können, sondern evtl. auch die Metaebene des Romans erreiche. Denn eins habe ich trotz Fragezeichen und Knoten im Kopf herausfiltern können: schreiben kann er, der Herr Hettche.
Und so komme ich denn auch auf 4* und gebe all jenen eine Leseempfehlung, die mehr als Oberflächlichkeit und 08/15-Literatur lieben und zu schätzen wissen.
©kingofmusic
Ich kannte vor der Lektüre dieses Romans vom Autor Thomas Hettche nur "Herzfaden". Es hat mir sehr gut gefallen, der Stil des Autors konnte mich damals vollends überzeugen. Anders hier, denn leider wurde ich mit diesem Roman überhaupt nicht warm. Das erste Viertel war gut, es gab zwar auch dort bereits ein oder zwei Entgleisungen ins surreale, doch sie konnten meine Leselust noch nicht ernsthaft dämpfen, zu schön waren die Beschreibungen über den Großvater und dessen Leben im Wallis, in das es den Ich-Erzähler Hettche verschlägt.
Hettche kommt nach vielen Jahren das erste mal wieder in das alte Chalet seiner Eltern, die mittlerweile beide verstorben sind. Der Vater verstarb erst kürzlich, doch die zwei verband nichts mehr, oder besser gesagt, es hat sie wohl auch nie etwas verbunden. Dass er seinen Posten als Hochschullehrer verloren hat, wird ihm den Entschluss leicht gemacht haben zurückzukehren, auch wenn er als Deutscher dort nicht willkommen ist.Dies spürt man direkt auf den ersten Seiten, den Leser beschleicht umgehend ein ungutes Gefühl. Mehr noch, man möchte ihn enteignen, er soll das Haus abtreten, doch will er das überhaupt?!
Eine alte Freundin von früher, Marietta, und deren Tochter Serafine, sind nach einem Erdrutsch, der einige Dörfer mitgerissen hat, geblieben. Sie erhellen Hettches Alltag, die alte Liebe entflammt kurz wieder und Serafine erzählt ihm viel von früher. Diese Passagen empfand ich als unheimlich gelungen, die Landschaft und die Atmosphäre wirkten enorm lebendig dabei.
Das Dorf wirkte derweil oft wie aus der Zeit gefallen auf mich. Das allein wäre nicht das Problem gewesen, mich hat vielmehr gestört, dass es bald nur noch um Hettches Innenleben geht. Es soll wohl die Zerrissenheit eines Schriftstellers widerspiegeln, für mich allerdings wenig nachvollziehbar, da mir solche abstrusen Gedankengänge noch nie gekommen sind. Die angeführte Literatur kenne ich ebenfalls nicht, so dass ich befürchte, dass mir viele wichtige Details zum Verständnis schlichtweg fehlten.
Ich hätte mir einen Roman gewünscht, der allen zugänglich ist, so vermute ich, wird er zwar einigen gefallen, doch die meisten werden wahrscheinlich resignieren wie ich.
Schade, denn auch hier beweist der Autor, dass er durchaus fesselnd schreiben kann, doch leider verliert er sich in der restlichen Hälfte in meinen Augen komplett.
Der Ich-Erzähler (namentlich Hettche selbst) wird in die Schweiz gerufen. Er bekommt Post aus dem Schweizer Kanton Wallis, wo etwa 40 Jahre zuvor seine Eltern ein Haus gekauft haben und wo der Erzähler aufgewachsen ist. Das Haus befindet sich oberhalb eines Tals, welches durch einen katastrophalen Bergsturz vor kurzer Zeit vollkommen überflutet worden ist. Dort hinein in dieses Katastrophengebiet also, abgeschnitten vom Rest der Welt aufgrund von blockierten und zerstörten Straßen, begibt sich der Erzähler. Er entdeckt nach jahrelangem Fernbleiben sein einstiges Elternhaus neu, gleichermaßen die berauschend schöne Umgebung in den Schweizer Alpen. Das Elternhaus soll verkauft werden - dies ist der Auftrag, den er erhält. Weshalb er nun dort ist.
"Ich starrte auf das gleichmütige Wasser. Nicht, um all das hinter mir zu lassen, war ich hier, sondern um es wiederzufinden." (S.132)
Der Erzähler beschließt eine Weile zu bleiben. Da er kurz zuvor seinen Job an der Uni in Berlin verloren hat, kann er sich die Zeit nehmen. Er entdeckt verlassene Häuser, begegnet einer alten Freundin mit Tochter und so einigen zwielichtigen Gestalten. Schnell werde ich als Leserin in seinen Gedankenfluss hineingesogen, weiß irgendwann nicht mehr genau, was real ist und was nicht. Alte Sagen aus der Schweizer Bergwelt geben dem ganzen eine mystisch-faszinierende Würze.
"Und so, wie jede Reise ein Sprung in eine Erzählung ist, ist jener Moment, wenn wir als Leser in einen Text abtauchen, der Beginn einer Reise." [...] Seine größte Angst ist dieselbe wie die des Lesers, das Ziel nicht zu erreichen, während die meergleiche Erzählung mit ihren Strudeln und Untiefen, willkürlichen Stürmen und Flauten, in der beide sich bewegen, zu Bildern des Weiblichen gerinnt, [...]" (S.148)
Die Erzählung, in die wir als Leser*innen hier hereingezogen werden, ist unstet, unglaublich vielschichtig, nicht immer verständlich, aber faszinierend zugleich. Wenn Hettche sich in Erinnerungen verliert, und beispielsweise über eigene Schuldfragen in Zusammenhang mit einem Studenten sinniert, und dies in Verbindung bringt mit Rilke und seinem Ziehsohn Balthus, dann macht er dies so informativ, poetisch und bildgewaltig, dass es mir völlig egal ist, was am Ende des Erzählens eigentlich für ein Ziel anvisiert wird. Der Weg ist hier definitiv das Ziel. Und so trifft es auf vieles im Roman zu: Hettche verliert sich in Gedanken über das Weltgeschehen, die Veränderungen der Zeit, über Altes und Neues, über die Kraft von Kunst und Literatur und über das Erzählen an sich. Häufig bringt er eigene Erlebnisse mit ein in seine Gedanken, wie z.Bsp. die Verarbeitung vom Tod seines Vaters. Immer wieder nimmt Hettche Bezug auf die Geschichten des Abenteurers Sindbad und des Odysseus, was für mich spannend gewesen ist und zusammen mit den alten Schweizer Sagen vieles noch lebendiger gemacht hat.
Unbedingt zu erwähnen ist die Poesie, mit der Hettche die Natur so wahrhaftig widergibt, dass ich mich mitten in den Bergen wähne:
"Wie ein Fanal leuchteten unter ihm die feuerroten Blätter der Wildkirschen, das sanft glimmende Gelb der Lärchen, Felder von Weidenröschen schossen nun hoch, deren tuffig weiße Gespinste sie wie Zuckerwatte umwaberten." (S.160)
Fazit: Der Roman "Sinkende Sterne" ist ein sehr vielschichtiger Roman, der zum Teil sehr kryptisch daherkommt, der mir aber große Freude gemacht hat bei der Entschlüsselung. Ein Roman über das sich stets in Veränderung befindende Leben, über Trauerbewältigung, Vergänglichkeit, über die Kraft von Kunst und Literatur im Kampf gegen Hass und Dogmen, über das Erzählen als Solches. Große poetische und sprachliche Strahlkraft tröstet über so manches Fragezeichen bei der Interpretation hinweg. Die Naturbeschreibungen sind traumhaft. Ich habe diesen Roman sehr gern gelesen.
Mein Lese-Eindruck:
Eine Naturkatastrophe größeren Ausmaßes steht am Beginn dieses Buches: ein Bergsturz im unteren Wallis hat das Tal verschüttet, die Rhone wurde zurückgestaut und bildet nun einen gewaltigen See, der die Dörfer des Tals in sich begräbt. Der Autor hält sich nicht auf mit Erläuterungen oder Hinweisen zu den vermutlichen Ursachen des Bergsturzes. Kein Wort über Dauerregen, Gletscherschmelzen, Klima und dergleichen, sondern er kommt sofort zu seinen eigentlichen Themen.
Der Protagonist, namensidentisch mit dem Autor, ein alternder und beruflich gestrandeter Literat, reist nun in das Tal, um nach dem Tod seiner Eltern sein Elternhaus zu verkaufen. Und da beginnt schon das Irritierende: er kommt in seine Heimat und ist dort ein unerwünschter Fremder.
Der gewaltige Erdrutsch hat nicht nur die Dörfer zerstört, sondern hat auch die bisherigen gesellschaftlichen Strukturen, die Zivilisation, die Neuzeit im Element Wasser begraben. Ein gewaltiges Totenreich ist hier entstanden, eingerahmt von den mächtigen und unzugänglichen Bergen der Hochalpen. Die überlebende Bevölkerung schließt sich ab und installiert eine restriktive feudale Ordnung. Hier kann sich der Autor einige diskrete Seitenhiebe auf das rückwärtsgewandte bürokratische Selbstverständnis der Schweizer und ihren ausgeprägten Geschäftssinn nicht verkneifen.
Der unheimlich dunkle See kann mit einer Fähre überquert werden, und hier gelingen dem Auto sehr eindringliche und archaische Bilder, die an griechische Mythen erinnern und die Motive der Vergänglichkeit und des Todes noch verstärken.
Durch den Untergang des Jetzigen tauchen die alten, vorschriftlichen Mythen und Sagen wieder aus der Versenkung auf, und der Leser lauscht mit dem Protagonisten den Sagen von Hungersnöten, von Totenwanderungen über die Gebirgskämme, von todbringenden Schneewehen, von den heimatlos umherirrenden Armen Seelen und ihren gefährlich verlockenden Lichtern. Der Autor schafft hier eine düstere und unheimliche Atmosphäre, der sich der Leser nicht entziehen kann – und die verstärkt und gleichzeitig verschönt wird durch die einfach nur grandiosen Beschreibungen des unwirtlichen, stürmischen Wetters und der Natur.
An diesem Punkt zweigen sich Hettches andere Themen ab. In breit angelegten Reflexionssträngen sinniert sein Protagonist über die vielschichtigen und existenziellen Themen Tod und Vergänglichkeit und vor allem um die Möglichkeiten, beides zu überwinden. Hier zeigt sich ein Walliser Mythos als Hoffnungsschimmer: weit oben im Gletscher befinde sich eine blühende Landschaft, in der die Sonne scheine, in der Kirsch- und Zwetschgenbäume wachsen und in der jeder Irrende und Suchende seine Heimat finden könne. Wo ist dieses Paradies, das den Tod überwindet? Die Antwort auf diese Frage hebt sich den Autor für den Schluss auf...
Hier schließt sich ein poetologischer Diskurs an, in dem Hettche gedankenreich und durchaus spannend Homers Ilias und die Sagen um Sindbad, den Seefahrer, bemüht. Was für ein schöner Gedanke: Morgenland und Abendland treffen sich in ihrer phantasievollen Erzählfreude! Beiden Helden fühlt sich der Protagonist verbunden: sie sind vaterlos und heimatlos wie er, Suchende und Irrende auf dem Wasser. Und es geht um das Erzählen, um die Macht des Erzählens, das Konstrukt einer fiktiven Realität und das Verhältnis von Realität/Wahrheit und Fiktion.
Homer konnte seine Welt, also die Welt des Odysses, noch als Sinnganzes begreifen, und so begreift sie auch Odysseus: er glaubt "an die Welt, so wie sie ist".
Das geht heute nicht mehr, sinniert der Protagonist. Unsere Wirklichkeit ist dekonstruiert, d. h. sie ist in Einzelwahrnehmungen zersplittert, und das Sinnganze existiert nicht mehr bzw. kann nicht mehr gesehen werden. Dichter und Leser sind nicht mehr durch ein gemeinsames Weltverständnis miteinander verbunden.
Und das verändert auch das Erzählen. Die Dichtung, meint der Protagonist, führt den Dichter und den Leser aus seiner Welt heraus, anders als bei Homer. Dichtung versucht, die Welt zu erreichen, aber es bleibt bei dem Versuch; Dichtung ist immer eine Konstruktion in dem Sinn, dass sie die subjektive Wahrheit des Dichters wiedergibt, aber nicht wie bei Homer die der Welt.
Die Folge ist, dass Literatur und Sprache eine eigene Dynamik entfalten, die Figuren werden quasi selbstständig und bestimmen selber ihr Leben. Die Begriffe Realität und Wahrheit sind nicht mehr fest umrissen, sondern taumeln wie „sinkende Sterne“, ihrer festen Konturen beraubt.
Am Schluss des Romans wird die Frage nach dem Paradies beantwortet, und hier schließen sich alle Themen des Buches nahtlos und ungemein elegant zusammen.
Das Paradies ist die Überwindung der Zeit und der Vergänglichkeit, und die gelingt in der Kunst. Und die Kunst kann eine Wahrheit bieten, die die tatsächliche Wirklichkeit nicht bieten kann.
Fazit: ein vielschichtiges Buch über Dichtung und Wahrheit und über existenzielle Fragen wie Vergänglichkeit und Tod und v. a. die Frage nach der Überwindung der Vergänglichkeit, sprachlich beeindruckend schön und mit grandiosen Beschreibungen der Natur.
Ein Bergsturz hat das Rhonetal in einen See verwandelt, Dörfer überflutet und den schweizerischen Kanton Wallis fast vom Rest der Welt abgeschnitten. Thomas Hettche nimmt uns mit auf seine Reise zum elterlichen Ferienhaus, das nun im schwer zugänglichen Gebiet liegt. Er wurde von den Behörden nach der Katastrophe aufgefordert, dort vorstellig zu werden. Thomas hat Zeit, hat er doch gerade seinen Job in der Uni verloren. Er hatte nur noch einen Studenten in seinen nicht mehr zeitgemäßen Vorlesungen über Sindbad und Odysseus und sein Sprachduktus sei mit seinen überholten Qualitätsvorstellungen zudem sexzistisch, so der Entlassungsgrund.
Durch Kontrollen und Sperrungen endlich an dem Haus angekommen, erinnert er sich an seine Kindheit in den Bergen, an das Altern und Sterben seiner Eltern und schließlich an Dschamil, seinem letzten Schüler den er noch beim Abschied zu einer Übersetzung von Sindbads Abenteuern überreden versuchte. Das verlassene Dorf beherbergt nur noch seine alte Jugendfreundin Marietta mit ihrer Tochter Serafine.
Beim Termin mit dem Kastlan bei der Fremdenpolizei wird Hettche aufgefordert, das Haus zu räumen. Er soll enteignet werden, man dulde ab sofort nur noch Einheimische. Hettche ist fassungslos, doch bietet der Notar von Werra ihm Hilfe an. Er will für ihn eine Audienz bei der Bischöfin erwirken.
Aber hier fängt es auch an, ziemlich verrückt zu werden. Der Autor versteht es, den Leser mit atemberaubenden Landschaftsbeschreibungen willig zu machen, einzulullen, ja zu betäuben, so dass die Szene im Schloss des Notars sich widerspruchslos im dystopischen Zerfall der Gegenwart einreiht. Die Vorfahren des Schlossherren erscheinen Thomas beim Tanz mit seinem Rechtsbeistand im putzbröckelnden Saal des maroden Gebäudes. Darf hier noch eine Mischung aus Ausnahmezustand (Hettche ist dabei, alles zu verlieren) und Einbildungskraft die Realität bereichern, so ist spätestens beim Treffen mit der Bischöfin (zumindest bei mir) der Ofen auf Sparflamme gegangen. Hier kollidiert der angedeutete Rückfall ins Mittelalter mit modernster Liberalität, nur um es gleich mit alten Ritualen ad absurdum zu führen... etwas, über das Hettche in seinem Arbeitsleben vor Kurzem noch gestolpert ist.
Zahlreiche Erwähnungen literarischer Werke, u.a. die Odyssee und Sindbads Abenteuer aus Tausendundeine Nacht fordern zum Detektivspiel in diesem Roman geradezu heraus. Parallelen wollen gefunden, Szenen, oder sogar das ganze Buch unter diesem Licht gesehen werden. Doch war es mir mit meinem Vorwissen nicht immer möglich, den Text zu analysieren. Ich beschränkte mich auf die bemerkenswerte Gabe Hettches, Worte zu etwas Großartigem zusammenzubauen, dem man gerne folgt, auch wenn das Ziel sich nicht mit meiner Reisebeschreibung deckte.
Es scheint mir ein sehr persönliches Anliegen Hettches gewesen zu sein, dieses Werk zu schreiben. Spürte er doch den Sinkenden Sternen nach, die seiner Meinung nach alle Männer umfasst (S.179) und reklamieren wir hier den heraufbeschworenen Konservatismus. So bleibt mir dann noch die Interpretation, ob es Wunsch, oder Warnung ist, das uns da mit so geistreichen Worten schmackhaft gemacht wurde.
Der Verlag Kiepenheuer und Witsch jedenfalls gestaltete die Sinkenden Sterne als langhaarige Frauengestalten die vor einer Bergkulisse auf dem Umschlag schlafend schweben, klärt mit einer detaillierten Karte des Rhonetals im Vorsatzblatt auf und bettete das Ganze in grobes Leinen, eine Wertschätzung der Literatur, die selten wird, aber wohltuend beeindruckt. Hettche beeindruckt auch, jedesmal, aber diesesmal mit viel Verwirrung.
Der 1964 geborene deutsche Schriftsteller Thomas Hettche ist ein Ausnahme-Romancier, der es versteht, völlig unterschiedliche Stoffe zu verarbeiten. Sein Repertoire reicht vom Kriminalroman über historische Inhalte bis hin zu zeitgenössischen Themen. Gern würzt er sein Schreiben mit etwas Skurrilität oder einem Hang ins Fantastische. So auch hier, in seinem neuesten Roman, der mit der Reise eines Sohnes (der Ich-Erzähler nennt sich bezeichnenderweise auch Thomas Hettche) zum Haus seiner verstorbenen Eltern ins Wallis beginnt. „Wie der Wind losbrach und an mir zerrte, als ich aus dem Auto stieg. Wütend fuhr er mir ins Gesicht, dass mir die Luft wegblieb, beißend kalt tobte er um mich her wie eine Hundemeute, die etwas bewachte, von dem ich nicht wusste, was es war.“ (Erster Satz) Welch ein Einstieg! Wie treffend er für den weiteren Verlauf des Romans sein wird, weiß man freilich erst am Ende. Man darf davon ausgehen, dass bei Hettche jeder Satz sitzt. Nichts ist dem Zufall überlassen. Der Text ist sinnesfreudig, fordernd und hochintelligent – manchmal von Letzterem etwas Zuviel für die geneigte Rezensentin. Doch der Reihe nach.
Thomas fährt also ins Wallis an den Ort seiner Kindheit, er war seit Jahren nicht dort. Aufgrund einer Naturkatastrophe stellt sich bereits die Anreise völlig anders dar, als er es aus früherer Zeit gewohnt ist. Männer in Uniform reglementieren die Einreise. Im unteren Teil des Wallis stehen Dörfer unter Wasser, weil ein Bergsturz die Rhone zu einem dunklen See gestaut hat. „Alles war wie immer, und doch hatte sich offensichtlich etwas grundlegend verändert. Die Soldaten mit den Maschinenpistolen, der Stahlkäfig, der Landsknecht mit dem roten Barrett unter der Waliser Fahne. Der See. Mein Telefon hatte keinen Empfang.“ (S. 14) Bereits auf den ersten Seiten kreiert Hettche eine eigentümliche Welt, die einem Sprung in eine archaisch anmutende Vergangenheit gleichkommt. Dazu passt, dass der Protagonist enteignet werden soll. Die Eidgenossen bleiben offenbar gern unter sich, stehen allem Fremden ablehnend gegenüber. Thomas stellt sich der drohenden Enteignung entgegen, nimmt das Haus, das er seit Jahren nicht betreten hat, in Besitz. Danach beauftragt er den höchst bizarren Anwalt Sulpice von Werra mit der Wahrnehmung seiner Interessen und erbittet sogar eine Audienz bei der geheimnisvollen Bischöfin von Sion, einer höchst exotischen Figur. Diese Begegnung dürfte Anlass für umfangreiche Interpretationsansätze geben.
Die Hinterlassenschaften seiner Eltern führen den Schriftsteller darüber hinaus zu einer intensiven und sehr nachvollziehbaren Auseinandersetzung mit den Themen Heimkommen, Vergänglichkeit und Tod, sie konfrontieren ihn mit Kindheitserinnerungen wie auch mit dem komplizierten Eltern-Sohn-Verhältnis. Seine Jugendfreundin Marietta nebst Tochter Serafine sind Thomas´ einzige Bezugspersonen. Mit ihnen erkundet er nicht nur die alpine Bergwelt, sondern lernt auch die mythische Legenden- und Sagenwelt der Schweizer Berge kennen. Natürlich wird diese wieder kunstfertig mit der Gegenwartshandlung verknüpft. Der Autor flechtet überhaupt zahlreiche literarische Bezüge in den Roman ein: die Bibel, Sindbad, Homers Odysseus, Dantes Höllenkreise, Kafka, Rilke und viele andere Verbindungen darf man entdecken. Je höher der diesbezügliche Kenntnisstand des Lesers ist, umso vielseitigeren Verbindungen und Ebenen dürfte er auf die Spur kommen. Wie gesagt, hier sitzt jeder Satz. Die Liebe des Autors zum Erzählen und zur Literatur schwebt über allem, sie ist sein flammendes Bekenntnis. Gleichzeitig geht Hettche, teilweise verschlüsselt, auf moderne gesellschaftliche Strömungen ein. So wurde sein Alter Ego gezwungen, seine Literaturprofessur ruhen zu lassen, weil er offensichtlich dem woken Zeitgeist nicht mehr entsprach – Details bleiben offen.
Man muss bei Thomas Hettche unbedingt tiefer schürfen, man darf sich nie mit dem Offensichtlichen zufrieden geben. Es gibt stets eine Ebene darunter. Dieses Spiel mit literarischen Bezügen, mit Symbolen, Metaphern und Rätseln muss einem liegen. Ohne Freude an der Interpretation wird man manche Szene möglicherweise nicht entschlüsseln können. Wie sehr das für den Einzelnen ins Gewicht fällt, ist wohl Typsache. Die virtuose Sprache des Erzählers entschädigt jedoch für Vieles. Es ist beispiellos, mit wieviel Verve und Begeisterung Hettche die idyllische Schönheit der Berge, ihre Gefahren und wechselhaften Naturphänomene schildern kann. Die Natur mutiert dabei zu einer Hauptfigur, die sich wiederum perfekt in den Rest der Handlung eingliedert.
Ich gebe zu, dass mich der Roman stellenweise überfordert hat, dass er mir partiell zu didaktisch konzipiert daherkam. Doch ich hatte das Glück, dieses Buch mit einem ambitionierten Lesekreis kennenzulernen, dessen Mitstreiter mir manch wertvollen Schlüssel zum Verständnis an die Hand gaben. In diesem Buch steckt weit mehr, als man auf den ersten Blick erkennt, es lohnt definitiv eine vertiefende Lektüre. Hettches Roman ist große Literatur mit zahlreichen aktuellen Bezügen und in einer meisterhaften Sprache verfasst. Ein Buch zur gegenwärtigen Debatte rund um Wokeness, Gender, Rassismus, Rückwärtsgewandtheit und Abschottung. Darüber hinaus ein Buch über das Leben an sich und die Bedeutung der Literatur. Ganz bestimmt wird es nicht jedem Leser gefallen. Aber seine Qualität kann man ihm auf gar keinen Fall absprechen!
Ein kleiner Ort im Schweizer Kanton Wallis. Ein Bergsturz hat zu einer Katastrophe geführt, ein ganzes Tal wurde überflutet. Straßen sind blockiert, gewisse Orte lassen sich nicht mehr erreichen. Mitten in diese Unruhe hinein gerät Ich-Erzähler Thomas Hettche, der eine amtliche Vorladung erhalten hat. Es geht um den Nachlass seiner verstorbenen Eltern, das Haus in den Schweizer Bergen direkt oberhalb des überfluteten Tals. Seltsame Begegnungen bringen Hettche dazu, an seinem Verstand zu zweifeln. Wer ist dieser merkwürdige Notar, der sich um die Angelegenheiten seiner Eltern kümmerte? Und was verbindet ihn noch mit Marietta, seiner Jugendliebe?
"Sinkende Sterne" ist der neue Roman von Thomas Hettche, der kürzlich bei Kiepenheuer & Witsch erschienen ist. Er ist in jeder Hinsicht eine Herausforderung, verlangt er seinen Leser:innen nicht nur intellektuell vieles ab, sondern führt sie auch an die Grenzen des guten Geschmacks und darüber hinaus. Es ist ein Werk, das provozieren möchte und provoziert. Es ist aber auch ein Roman, der sich mit den grundlegenden Fragen des Lebens und der Vergänglichkeit beschäftigt.
Auffällig ist auf den ersten Blick die Namensgleichheit zwischen Ich-Erzähler und Autor. Der Erzähler heißt nicht nur Thomas Hettche, er ist es auch. Zumindest sind es wohl seine Gedanken, es sind seine Bücher, auf die er sich während des Erzählens beruft. Trotzdem ist "Sinkende Sterne" nicht wirklich im Bereich der Autofiktion anzusiedeln, denn die Erlebnisse des Ich-Erzählers Hettche sind im Gegensatz zu vergleichbaren Autor:innen wie beispielsweise Monika Helfer eindeutig fiktiv. Ebenfalls sofort ins Auge sticht die sprachliche Kraft, mit der Hettche erzählen kann. Seine Naturbeschreibungen sind schlicht großartig. Die Darstellung der Gebirgswelt, der Wetterphänomene, aber auch die Empfindungen, die Hettche schildert, als er das Haus seiner Eltern betritt, seine Kindheitserinnerungen - das alles ist große Klasse und rechtfertigt allein schon die Lektüre des Romans.
Hätte er es doch nur dabei belassen, möchte man Hettche jedoch zurufen. Denn der Autor möchte mit "Sinkende Sterne" viel mehr erreichen, als die Dystopie einer Schweizer Gesellschaft zu erzählen, die nach der Umweltkatastrophe politisch an der Grenze zu einer Diktatur steht. Denn Ich-Erzähler Hettche, so erfährt man recht früh, wurde in den Kanton Wallis gerufen, weil er enteignet werden soll. Ein Schicksal, das offenbar allen Nicht-Schweizer:innen droht. So weit, so gut und nicht uninteressant. Allerdings spielt diese geplante Enteignung im Rest des Romans fast keine Rolle mehr, außer dass sie ein Teil der großen Angst ist, die Hettche überfällt angesichts der gesellschaftlichen Unwägbarkeiten, mit denen er nicht zurechtzukommen scheint. Zumindest der Ich-Erzähler Hettche, falls man hier zwischen Figur und Autor noch immer trennen möchte.
Diese Angst überlagert im Grunde das gesamte Buch. Sie erinnert frappierend an die "German Angst" und macht aus "Sinkende Sterne" einen rückwärtsgewandten, lamentierenden Roman. Der Ich-Erzähler fürchtet vor allem die Vergänglichkeit, die wohl das Grundthema des Buches ist. Doch nicht nur die Vergänglichkeit des Lebens plagt ihn, auch die Vergänglichkeit von Traditionen, von Altbewährtem. Früher war alles besser. Das ist nicht nur quälend langweilig, sondern bisweilen ein echtes Ärgernis. Der Ich-Erzähler Hettche hat seinen Lehrauftrag an einer deutschen Universität verloren, weil seine angebotenen Vorlesungen nicht mehr dem Zeitgeist entsprachen. "Meine Fixierung auf Texte eines westlichen Kanons, mein Beharren auf überholten Qualitätsvorstellungen und mein sexistischer Sprachgebrauch" verunmöglichte eine weitere Anstellung, heißt es auf Seite 16. Ja, Thomas hat es nicht leicht. Doch immerhin gibt es den syrischen Flüchtling Dschamil, dem Hettche mit der Subtilität eines Holzhammers die Begriffe von Fremdheit und Moral in der Literatur erklären möchte.
In diesem Duktus geht es weiter. Der größte Tiefpunkt, sowohl inhaltlich, als auch sprachlich, befindet sich in der Mitte des Romans. Hettche trifft auf die Bischöfin (!) von Sion. Diese trägt eine FFP2-Maske (!!), ist schwarz (!!!) und wird den Erzähler und die Leserschaft noch weitere Male überraschen. Die Bischöfin verkörpert auf geradezu groteske Weise all das, wovor sich Hettche fürchtet. Die zunehmende Feminisierung der Gesellschaft, Diversität in jeder Hinsicht, die "sinkenden Sterne" der Männlichkeit, denen der Roman allen Ernstes seinen Titel zu verdanken hat. Hettche ist sich in dieser Szene sogar nicht zu schade, seine eigentlich doch vorhandene Sprachkunst in dem völlig missglückten Wortspiel "Sie war wunderschön und groß, und sie war schwarz. 'Ich weiß', sagte sie...." münden zu lassen. Die gesamte Bischöfin-Szene ist eine einzige Provokation, die ihr Ziel zwar erreicht, im Grunde aber für die Handlung des Romans völlig überflüssig ist. Dabei hatte ich eigentlich schon 20 Seiten vorher geglaubt, den Tiefpunkt des Romans gelesen zu haben. Sollte Rainer Moritz auf Seite 95 nämlich Hettches Ausführungen über die Verschmelzung und Befruchtung von Keimzellen gelesen haben, ist eine Neuauflage seines 2015 erschienenen Werks "Wer hat den schlechtesten Sex?" eigentlich unabdingbar. "Eine einzigartige Geschichte von Wahnsinns-Höhepunkten in der Literatur - zum Totlachen, Fremdschämen, Mitzittern und Genießen", heißt es in der Produktbeschreibung vielsagend.
Ein weiterer Kritikpunkt ist das Abschweifen Hettches in Bezug auf seine Bildung, seine übergroße Intellektualität, die der Ich-Erzähler hinreichend betont. Heidegger, Nietzsche, Pasolini, Rilke - ja, Thomas Hettche hat sie alle gelesen und weiß sie ausführlich zu zitieren. Der Autor und Dramaturg Roland Schimmelpfennig sagte einmal bezüglich seines hervorragenden Debütromans "An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts", er wolle damit die Literatur von der Geschwätzigkeit befreien. Sollte er sich Hettches Werk anschauen, könnte er vermutlich 50 Seiten des ohnehin nur 220 Seiten zählenden Werkes besten Gewissens streichen.
"Sinkende Sterne" ist ein Roman, der nicht gefällig ist und der in jeder Hinsicht polarisieren möchte und polarisieren wird. Ein absolut legitimes Mittel der Literatur, das in diesem Fall aber nicht überzeugt, weil sich Hettche selbst in seinen Fallstricken verliert und die wahrlich vorhandene Qualität seiner Sprache darunter leidet. Dennoch wird das Buch sicherlich seine begeisterten Leser:innen finden. Im Vergleich zu seinem berührenden Vorgänger "Herzfaden" präsentiert sich Hettche hier aber eher selbst als "sinkender Stern".
2,5/5
Kurzmeinung: Eine Hommage an die berauschende Bergwelt des Wallis - und noch viel mehr!
Der neueste Roman "Sinkende Sterne" (2023) von Thomas Hettche könnte den geneigten Leser in die Irre führen oder aufs Glatteis, je nach Gusto. Es ist wahrscheinlich ein Roman, den der Autor in allererster Linie für sich selbst geschrieben hat. Diese Hinwendung auf sich und Wegwendung von der Galerie ist nicht das schlechteste, was einem Roman passieren kann, jedoch kann man davon ausgehen, dass es sich bei solchen Werken nicht um gefällige Werke handelt. Und so liegt mit „Sinkende Sterne“ ein Roman vor, der vordergründig verschlossen bis provokant ist, für den Tieferschürfenden durchaus Metaebene bietet. Mit anderen Worten, dieser Roman ist interpretationsbedürftig. Auf alle Fälle ist er weit weg von bloßer Unterhaltungsliteratur.
Vordergründig begibt sich der Autor himself, also eine Person namens Thomas Hettche, auf eine Reise. Der Vater hat tief in den Bergen des Wallis (Schweiz) ein Häuschen hinterlassen. Dies soll er verkaufen, wie ihm die Verwaltung des Wallis schriftlich mitteilt. Und genau das will Thomas Hettche tun. Er will das Haus verkaufen, aber als er ankommt, brechen alte Erinnerungen auf, denn Thomas Hettche hat seine Kindheit im Wallis verbracht.
Der Kommentar:
Die Naturschilderungen Hettches, der vom Frühling bis zum Winter die Jahreszeiten in der walliser Landschaft beschreibt, suchen ihresgleichen, sie sind grandios. Die Landschaft, die Ortschaft, das sind die eigentlichen Protagonisten. Der Autor setzt sowohl der Schönheit wie auch der Eigenart des Wallis ein Denkmal. Die Landschaft ist überwältigend, zuweilen bedrohlich; die Bergwelt ist von Sagen und Mythen durchwirkt, zum Beispiel vom Durchzug der armen Seelen, einer Totenwanderung, der man am besten nicht begegnet, weil sie genau das ist, todbringend. Thomas Hettches Roman ist eine Erzählung vom Heimkommen und vom Sterben und dem, was dazwischenliegt, dem Erzählen.
Dem Erzählen per se, seinem Entstehungsprozeß, dem Sinn der Erzählens, widmet der Autor sich in vielen mehr oder weniger klugen Gedanken, es werden frühere Denker zitiert, reflexiv angerissen und zueinander in Beziehung gesetzt. Für einen Erzähler ist es legitim, dass er über das Erzählen nachdenkt, es ist schließlich sein Metier. Er darf freilich nicht davon ausgehen, dass seine Gedanken dazu die Leserschaft in den gleichen Taumel der Begeisterung versetzt. Man möge es mir/uns verzeihen, dass uns manches von Hettches Philosophierereien einfach langweilt. Möglicherweise verraten wir uns hier als Kulturbanausen. Mit Dantes Göttlicher Komödie und seinen Höllenkreisen kann ich jedenfalls nicht viel anfangen, bzw. ich kann dem nicht viel abgewinnen.
Trotzdem bleiben viele lohnenswerte Sätze übrig, selbst wenn sich Hettche für meine Begriffe etwas zu viel in die Sage des Odysseus und in die Sindbad des Seefahrers vertieft und auch Sheheredzade aus TausendundeineNacht hat ihren Auftritt. Aber hat der Autor nicht Recht, wenn er meint: „Jeder, der liest, ist Opfer eines Sirenengesangs?“ oder wenn gesagt wird „nie ist die Macht des Erzählens größer als wenn es abbricht“. Das Erzählen, also im weitesten Sinne die Literatur, ist das, was zwischen Geburt und Tod liegt, das Erzählen ist ein Mittel, das den Tod aufhalten soll. An Sheheredzade wird dies natürlich überdeutlichst sichtbar; sie lebt nur dann weiter, wenn der sie missbrauchende König neugierig auf eine weitere Geschiche ist, die sie am nächsten Abend erzählt. So hält Sheheredzade den Tod auf Abstand!
Hettche ist ein Meister der Verkürzung, auch ein Meister der Provokation. Es gibt cirka in der Mitte des Romans eine verstörende, obszöne Szene mit einer Genderfrau, einer Bischöfin. Hier versagt beinahe die Interpretation. In einer Szene verdichet ein Säbelhieb gegen die ganze zeitgenössische Aufgeregtheit! Antirassismusdebatte, Genderdebatte, Diversitätsgerangel, Kirchenfrömmigkeit, Mittelalter. Oder doch latente Homosexualität? Don’t know. Aber diese Szene ist die Aufregung nicht wert, letztlich geht es um das Eigentliche in Hettches Roman, um das Sterben, denn wir enden im Winter, im Kalten, im Fieber und im Schmerz (des Abschieds), der im Herbst (des Lebens) schon zutiefst spürbar ist: „der stechende Schmerz des Herbstes“. Wunderschön auch diese Abschiedsformel „Der Himmel war jetzt meist von einem so tiefen Blau und so klar, als sollte man sich alles noch einmal für den Winter einprägen“.
Nostalgie, die Sehnsucht nach dem Alten, dem Fortwährenden, also dem Ewigen ist ebenso in dem Buch zu finden. Vom Friedhof, auf dem der Dichter Rilke liegt (der Dichter besucht den Dichter, was für ein Bild!) wird gesagt, dort herrscht „die alte Ordnung aus Holz und Marmor“. Das Alte mit seinem nur langsamen Voranschreiten, dem Tempo, bei dem die Seele noch mitkam, war vielleicht gar nicht so schlecht. Jedenfalls setzt der Fährmann über den See. Und wenn das kein Sinnbild für den Tod ist, dann reiche man mir einen Besen zum Fressen. So viele Bilder weisen auf den Tod, auf ausgelebtes Leben hin: Eine Seilbahn beginnt sich zu bewegen, was ist das Leben anderes? Aber die Gondeln sind leer. Denn das Leben ist ausgelebt, es bringt nichts Neues. Dann steht die Seilbahn folgerichtig still!
Die Serafine(n) verweisen weiter auf Rilke, in dessen Duineser Elegien sie eine Rolle spielen. Sie haben eine dienende Funktion, geben göttliche Hinweise oder sind Hinweise auf das Vorhandensein des Göttlichen. Ein junges Mädchen mit Namen Serafine hat mehrere Auftritte. Nach anfänglicher Irritation denke ich, es ist nicht Serafine als Person gemeint, sondern es sind die Serafinen, also Engel. Mehrmaliger Auftritt gleich Mehrzahl. Auch die anderen surrealen Szenen sind bloße Imagination des Dichters, der unter seiner Arve sitzend, nachdenkt – und dann zu seinem Stift greift. Hier unter der Arve, im Erinnerungshaus des Vates, fließen nun Dichter und Dichter zusammen, der, der den Roman schreibt (aber weiterlebt) mit dem wesensgleichen Dichter, der im Roman stirbt. Die Tatsache, dass ein Stern nicht sinkt, sondern stirbt, mag meine Interpretation betonen.
Fazit: Thomas Hettches Roman ist eine Erzählung vom Heimkommen und vom Sterben und dem, was dazwischenliegt, dem Erzählen. Es ist kein gefälliger, aber ein vielschichtiger Roman. Ein Roman, der provoziert und sicherlich kontrovers diskutiert werden wird. Ich mag seine Vielschichtigkeit, würde mir aber als nächstes wieder einen leichter zugänglicheren Roman von Thomas Hettche wünschen.
Kategorie: Anspruchsvolle Literatur
Verlag: Kiepenheuer und Witsch, 2023
Sehr geehrter Herr Hettche,
in Leserunden bin ich manchmal experimentierfreudig; lasse mich auf Bücher ein, die ich ansonsten allein im stillen Kämmerlein nicht lesen würde. Man kann ja von Eindrücken Anderer sehr profitieren und überraschende Seiten an einem Werk entdecken, die einem selbst sonst verborgen blieben. Um ehrlich zu sein: Ihr neuer Roman "Sinkende Sterne" ist ein solches Buch, das ich für mich privat nicht gelesen hätte. Leider muss ich auch sagen, dass die Lektüre selbst durch die Mithilfe und Unterstützung eines hoch engagierten Lesekreises für mich eine Herausforderung blieb. Ich korrigiere, da dies meine Leseerfahrung noch nicht hinreichend widerspriegelt: Ich habe mir an "Sinkende Sterne" die Zähne ausgebissen, habe mich von Seite zu Seite durchgerungen, um am Ende doch zu erkennen, dass mir der Zugang zu Ihrem Universum versagt blieb. Ich hätte diese Welt so gerne besser kennengelernt, Streifzüge darin unternommen, Sie genossen, wie die Natur- und Landschaftsbeschreibungen, auf die Sie selbst Lobeshymnen anstimmen. Nun habe ich das Gefühl, versagt zu haben. Ich habe mich in die mir fremde Hettche-Welt irgendwie hineinbegeben, bin darin quasi wie blind herumgetorkelt, habe mich verlaufen und komplett die Orientierung verloren. Soll es so ein? Kommen nur die ganz Hartgesottenen ans Ziel und dürfen Einblicke in Ihre Rätsel erhaschen? Ich bin frustriert, fühle mich ausgeschlossen.
Ich dachte, ich begebe mich mit Ihnen auf die Spurensuche nach Ihrer verlorenen Kindheit, verpassten Chancen im Verhältnis zu den Eltern, begleite Sie bei Ihrer Verarbeitung all dessen, um von gewonnenen Erkenntnissen profitieren zu können. Ich habe zwar im Unterschied zu Ihnen noch meine sichere Dozentenstelle, denn ich habe meine Lehrtätigkeit nur für diese Lese-Experiment pausiert, aber nach meiner literarischen Reise fühle ich mich seltsam leer, grüble über dies und das Ihrer Geschichte und komme zu keinem Ergebnis. Nun gut, Ihr Rüstzeug, Ihre Technik sind hochentwickelt, daran ist die Reise nicht gescheitert. Auch für kluge Gedankenstöße war gesorgt. Ich bin nicht gänzlich literarisch ausgehungert zurück geblieben. Aber ich wurde fortgerissen vom reißenden Fluss einer allenorts bewunderten Schreibkunst und wäre darin fast ertrunken; nur mit größter Anstrengung rettete ich mich am Ende in mein eigenes Leben zurück und erfreue mich seitdem an der Sicherheit meines Dozentendaseins, das mir in der Regel auch mehr interessierte Teilnehmer beschert als nur einen.
Die Antworten auf all meine drängenden Fragen muss ich mir nun wohl selbst geben; ebenso bleibt es mir überlassen, mein zum Teil ebenfalls vulnerables Verhältnis zu meinen Eltern, meine Sehnsucht nach Geborgenheit und meine nostalgische Flucht zurück in die eigene Kindheit zu bearbeiten. Wenn mir all dies zu müsam wird, kann ich mich immerhin in den wissenschaftlichen Elfenbeinturm flüchten, in deren sicherer Bubble ich weit mehr verstehe als im Hettche-Universum, das mich immerhin nicht gänzlich verschlang. Ich existiere weiter, erfreue mich angesichts der allgemeinen Beschleunigung des Lebenstempos an entschleunigenden Freizeitaktivitäten wie Lesen, Musik, anderen schönen Künsten.
Ich will nicht sagen, dass Ihr Universum nicht schön sei oder es der Reise nicht lohnt, aber man muss offenbar eine größere Ausdauer und einen längeren Atem dafür mitbringen, als dies mir gegeben ist. Ich nehme an, dass Sie diese Hartgesottenen dann auch mit weitreichenden Erkenntnissen belohnen? Da mir auch dies nicht garantiert scheint, werbe ich vorsichtig: Betreten des Hettche-Universums auf eigene Gefahr! Zu Risiken und Nebenwirkungen befragen Sie vorab die Fangemeinde. Spätere Haftung ist ausgeschlossen.